Montag, 19. Dezember 2016

Berlin

Ich kann nicht trauern. Es tut mir leid. Da ist nichts mehr an Betroffenheit, an Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen. Es ist falsch, aber meine Gefühle kann ich nicht ändern.
Mich dominieren eine gewisse Frustration und ein schwelender Zorn, der in diesen Stunden des brummenden social networks wächst.
Ich erinnere mich an die Bilder aus dem Flughafen von Brüssel, wo ein weinendes Kleinkind von wenigen Jahren von Rettungskräften auf den Leichnam seiner Mutter gesetzt wurde.Ich erinnere mich an den mit Leichen bedeckten Boulevard in Nizza. Manche nicht größer, als die halbe Jacke, die über sie gebreitet wurde. Ich erinnere mich an das in Blut und toten Körpern liegende Bataclan in Paris. An die Berichte über sich übergebende Einsatzkräfte beim Sturm des Gebäudes.
Und ich erinnere mich an die Reaktionen. Auf diese Vorfälle und auf jene von Würzburg, Ansbach und erst einen Tag her, von Ludwigshafen. Geheucheltes Mitleid bei gleichzeitigem Diskutieren des Motives in völliger Verneinung der Beweise, Zeugen und Wahrscheinlichkeiten.
Die Suche nach der "eigenen Schuld" im Anschluss. Integration. Sprachkurse. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Schusswaffenbesitz von Sportschützen und Dienstwaffengebrauch von Polizisten.
Und die Ignoranz, das wohlfeile Geschwätz des "weiter machen als sei nichts" um diese anderen, die man nicht beim Namen nennen will, bloß nicht mit etwas in Verbindung zu bringen, was gar nichts damit zu tun hat und in Allgemeingültigkeit auch gar nicht existiere. Außer es geschieht etwas Positives in seinem Namen, natürlich. Und um sie ja nicht "gewinnen zu lassen".
Hier eine Nachricht an die Verbreiter solcher Worte: wenn sie töten, wenn jemand stirbt oder sein Leben auf immer verdunkelt wird, dann haben sie gewonnen. Es ist vielleicht nicht der Gesamtsieg - aber es ist eine Schlacht. Und wer glaubt, den Gesamtsieg durch Ignoranz und Untätigkeit zu erringen, der sollte sich dringend ein paar Bücher über Geschichte besorgen. Ganz gleich welche...

All das geht mir durch den Kopf - würde aber nicht reichen um alles Mitleid zu überdecken. Aber die aktuellen Reaktionen, selbst von Menschen in meinem Umfeld, sind derartig widerlich und devot, dass es mir die Galle hoch treibt.
"Nicht spekulieren" schrieb eine Bekannte in einem Gruppenchat.
"Verbreitet keine Fake - News" ein anderer in einem anderen Gruppengespräch.

Fassen wir zusammen. Einen Tag, nach einem durch Zufall verhinderten Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Ludwigshafen (eigentlich 3 Tage, die Bombe wurde schlicht an ihrem Standort nicht gefunden...), wenige Monate nachdem ein gemieteter LKW in eine Menschenmenge in Nizza gelenkt wurde und in einer Zeit voller Anschläge (von denen die Massenmorde idR auf das Konto der Islamisten gehen) soll man den IS oder andere jener Islamisten und Mörderbande vor "vorschneller" Verdächtigung aussparen?
Selbst wenn die geschätzt 10% Wahrscheinlichkeit eintritt (die, wenn die Meldung über eine vorliegende Terrorwarnung stimmt noch weiter schrumpfen), dass es ein Unfall oder ein atheistischer Religionshasser, christlicher Sektenanhänger, besoffener LKW-Dieb oder irgendwas in dieser Richtung gewesen sei - dann wurde erstmal in Richtung einer Terrortruppe spekuliert, die genau das bereits getan hat, was man ihr nun anlastete...

Ernsthaft, erinnert sich jemand, dass eine Stimme von Spekulationen abriet, als man in Dresden einen ermordeten Somalier auffand und dies sofort als fremdenfeindliche, rassistische Tat von Rechtsradikalen ansah? Als Volker Beck Anzeige gegen die Dresdner Polizei erstattete, weil diese vor Ort ohne Obduktion und Untersuchung der Leiche erstmal keine Mordmerkmale feststellte aber eine Untersuchung einleitete?

Diese Heuchelei, dieses Ermöglichen von Terror und die Spaltung einer Gesellschaft regen mich auf. Es sind schon wieder Leute gestorben und verletzt worden, weil wir eben nicht aus Frankreichs Schicksal gelernt haben. Weil wir es immer "besser" wissen und die "besseren Menschen" sein wollen.
Wie viele müssen es sein, bevor man etwas anderes versucht als "weitermachen wie bisher" und "Spekulationen" verbieten will?

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