Sonntag, 3. November 2013

Allerseelen

Als ich klein war ging meine Familie an Allerseelen stets nach Einbruch der Dunkelheit auf den Friedhof. Es gab (und gibt noch immer) kurz hinter dem Eingang zwei parallel laufende Wege, zwischen denen eine etwa 3 Meter breite Rasenfläche leer steht. Ab Allerheiligen wurden Kerzen von der Stadt, der Gemeinde und allen die wollten aufgestellt. Für einen, später zwei Groschen konnte man sich Kerzen direkt am Friedhof kaufen und dort aufstellen. In der Mitte ruhte auf einem Gestell ein Rahmen in Kreuzform, in dem unzählige Kerzen ihr Licht ausstrahlten.
Immer haben wir dort ein paar Kerzen aufgestellt, für all jene, die niemanden haben um ihrer zu gedenken und für all jene, derer sich längst niemand mehr erinnert.
Danach ging es zu den Gräbern der unbekannten Soldaten und Bombenopfer, die während der sinnlosen Bombardierungen unserer Stadt im zweiten Weltkrieg umkamen. Darunter etwa zwei dutzend junge Männer, denen der Luftschutzwart in einer Bombennacht den Eintritt in den städtischen Luftschutzbunker mit den Worten "nur für Zivilisten" verwehrte. Nur Momente bevor eine Bombe den Platz vor dem Eingang traf und sie alle umbrachte.
Daran erinnerten wir uns stets, bevor wir die Gräber der Familienangehörigen aufsuchten. All die Onkel, Tanten, Urgroßeltern. Es dauerte immer seine Zeit. Aber die fast greifbare Trauer, die stille Würde, die Anteilnahme, das Gedenken haben die Zeit nie lang werden lassen. Immer wurde etwas erzählt von den Verstorbenen.
Seitdem sind viele Jahre ins Land gegangen. Einen Teil davon habe ich mich nicht um die Familie, die Religion oder gar das Andenken gekümmert. Selbst als ich es wieder tat, hatte ich keine Zeit diesen Feiertag angemessen zu begehen. Dieses Jahr war es das erste Mal seit zwei Jahrzehnten.
Wir fuhren in meine Heimatstadt zu meiner Großmutter, die fast weinte vor Freude über die Gelegenheit an diesen Tagen auf den Friedhof zu kommen. Das machte mir meine Schuld, mein Versäumnis intensiv bewusst. Zwar hat es die letzten Jahre immer jemand anderes aus der Familie geschafft, sie dorthin zu bringen, aber ich war eben nicht da. Dieses Jahr, als niemand sonst Zeit oder Gelegenheit hatte, war ich da. Ein Grund zur Dankbarkeit für mich.
Auf dem Friedhof erwartete uns ein Bild, dass mich auf den Boden der heutigen Realität zurück holte. Zwar war der Friedhof gut besucht, aber die Atmosphäre war eine mir völlig fremde. Die Menschen waren laut. Laut im Sinne von lärmend. Die Trauer anderer kümmerte die Meisten nicht. Auf dem Rasen am Eingang stand eine handvoll Kerzen, kaum mehr als zwei dutzend. Der Rahmen war aufgestellt, aber darin standen vielleicht sechs oder acht Kerzen von sonst mindestens hundert.
Auf dem Weg zu den Gräbern unserer Verwandten passierten wir Gräber, die unter dem Laub gar nicht mehr sichtbar waren. Einige waren völlig zugewuchert. Ein großer Teil der Gräber trug keinerlei Schmuck, keine Blumen, kein Licht.
Dafür gab es immer wieder Zeichen von Vandalismus. Zerstörte Bänke, zerschlagene Flaschenreste, Graffiti-Teile, die nicht abwaschbar oder überstreichbar waren.
Ist das die vielbeschworene Zukunft, die bessere Welt? Ob ungeborenes Leben, Mitmenschen oder die sterbliche Hülle - Würde, Respekt, Anstand schwinden. Zum Trauern bleiben wir an Allerseelen zukünftig in Kirche und Heim - und besuchen unsere Verwandten einmal mehr an einem anderen Tag.

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