Mittwoch, 11. November 2015

Heute: Vorurteile

Ein Wort, welches derzeit wieder inflationär benutzt wird lautet "Vorurteile". Auch mir wurde jüngst genau das wiedervorgeworfen, doch dazu später mehr.
Was aber bedeutet das Wort eigentlich. Zuerst natürlich genau das, was es sagt: sich ein Urteil im vorraus zu bilden. Man kennt einen anderen Menschen noch nicht, hat noch keine oder kaum Informationen über den Betreffenden, meint aber genau zu wissen, "was für einer" derjenige ist. Oder man steckt denjenigen aufgrund bestimmter bekannter Umstände, wie Hautfarbe, Herkunft, Religion, Geschlecht oder Behaarungsgrad in eine bestimmte Schublade. Man nimmt an, dass dieses Individuum mit den gleichen Gedankengängen, Ansichten, Vorsätzen, Werten und Hemmungen ausgestattet ist, wie eine (vermeintliche oder reale) Gruppe anderer Menschen.
Natürlich geht das auch mit Gruppen, Gegenständen, Ideen, Konzepten usw. Letztere natürlich ohne Behaarungsgrade.

Zum anderen kann es heute aber auch bedeuten, obwohl man Informationen zur Verfügung hat, die dem eigenen, bereits gebildeten Urteil widersprechen oder es in Frage stellen, bleibt man dabei. Eigentlich unter den Begriff Belehrungs- oder Faktenresistent fallend ist auch dies heute oftmals teil des sogenannten Vorurteils.

Mir sind Vorurteile von einem anderen Blogger vorgeworfen worden, dessen Namen ich hier nicht nenne, um nicht den Eindruck eines flamewars, eines kindischen Wortkrieges zu erwecken. Mir geht es um die Debatte, ihren Verlauf und die Inhalte, nicht um die Personen.
Zum Verständnis: jener Blogger schrieb einen kurzen Beitrag über ein Gespräch, welches er mit einem jungen Mann orientalischer Herkunft und muslimischen Glaubens hatte, welcher ihm versicherte, lediglich eine winzige, einstellige Prozentzahl der Muslime würden den IS gut finden oder unterstützen und alles, was an theologischen Behauptungen für ihre Sache aufgestellt würde, könnte er mit Koranstellen widerlegen.

Leichte Zweifel an diesen Aussagen kamen dem Bloggerkollegen, aber die freundliche Persönlichkeit und der gerade, ehrliche Blick in seine Augen brachten ihn auf seine Seite. So der Blogger selbst und soweit der Text.
Ich ließ mich hinreißen einen Kommentar zu verfassen, in welchem ich zum Ausdruck brachte, dass es in meinen Augen zwei Möglichkeiten gäbe. Die erste: der junge Mann glaubte, was er sagte. Dies würde ihn als einen guten Menschen definieren, der nach meinem Dafürhalten leider ein wenig naiv durch die Welt ginge. Oder zweitens - er hätte gelogen, was ich möglicherweise mit einem bestimmten Prinzip im Islam, der Taqiyya, in Verbindung sah.
Zu ersterer Vermutung, bzw. warum ich ihn für naiv hielte: in seinem Heimatland gibt es eine uralte christliche Gemeinde, welche in den letzten 10 bis 15 Jahren eine dramatische Verschärfung von Diskriminierung und Verfolgunge erleben musste - unerwähnt ließ ich dabei, dass sich dieses Beispiel auf fast alle islamischen Länder spiegeln lässt. In seinem Heimatland gibt es außerdem fast keine Juden mehr - diese wurden nach der Staatsgründung Israels vertrieben, ihr Besitz in Beschlag genommen, die Synagogen zerstört oder, in wenigen Fällen, enteignet. In den folgenden Jahren kam es wiederholt zu Konflikten und Kriegen mit Israel - und als der herrschende Diktator dann eines Tages einen Waffenstillstand vereinbarte, geriet er ins Visier der Kritik und schließlich von Extremisten, die ihn töteten. Diese Extremisten wurden mit einer überwältigenden Mehrheit vor einigen Jahren in der ersten wirklich freien Wahl des Landes gewählt und koalierten mit den Salafisten und anderen Islamisten. Als es zu erneuten Unruhen kam wurde die israelische Botschaft von einem wütenden Mob gestürmt. Auch dem Bloggerkollegen ist bekannt, dass jene gewählte Gruppe mehrheitlich als terroristische Gruppierung betrachtet wird und eine extrem gewälttätige Geschichte hat.
Ich denke, jeder, der sich ein wenig mit Geschichte oder dem Orient auskennt weiß nun, von welchem Land die Rede ist. Ägypten.
Um diese Vorgänge, inklusive dutzender Bombenattentate und Kirchenerstürmungen durch wütende Menschenmengen nicht mitzubekommen, muss ein von dort Kommender schon jeglichen Kontakt abgebrochen haben und auch bei uns die Nachrichten aus dem Land völlig meiden.

Aber zurück zur Diskussion: mir wurde durchaus sachkundig entgegnet, dass die Taqiyya sich lediglich auf lebensbedrohliche Momente beziehe, in denen die Verleugnung des Glaubens das eigene Dasein rettete. Wie dies interpretiert werden kann, darauf verwies ich mit Blick auf den im 12. Jh.n.Chr. verstorbenen islamischen Gelehrten al Ghazali, der die "Bedrohung" sehr weit fächerte. Auch die Tatsache, dass der Koran selbst Listen und Ränke mehrfach als lobenswerte Attribute benennt deutet auf eine andere Auslegungsmöglichkeit hin.
Da ich aber keine grundtheologische Debatte unter Nichttheologen beginnen wollte, beließ ich es bei den Hinweisen und konzentrierte mich darauf zu begründen, warum ich es für möglich hielte, dass die Aussagen des Betreffenden angesichts dessen was in seinem Heimatland passiert naiv oder gelogen erscheinen. Ich brachte Beispiele wie das Maspero Massaker, bei welchem sich die staatlichen Medien dazu hinreißen ließen, "aufrechte ägyptische Muslime" zur Niederschlagung des christlichen Aufruhrs aufzurufen. Ein Aufruf dem, auf den Videos dieser Nacht sichtbar, nicht Wenige folgten.
Ein, leider nicht von meinem Gesprächspartner genutztes, Gegenargument wäre der Hinweis auf jene Muslime gewesen, die am Protestmarsch der Kopten teilnahmen und so ebenfalls zu Opfern wurden, und auf jene Muslime, die den fliehenden Kopten halfen - um genau zu sein einige Mitarbeiter eines anderen, kleinen TV Senders, die viele der vor ihrem Gebäude verletzten Kopten in das Gebäude ließen und versorgten.
An der Stelle hätte sich faktenbasiert über Menschlichkeit und ihre Pauschalisierung diskutieren lassen.
Ein zweites von mir genanntes Beispiel war der Lynchmord an Maryam Sameh George, einer jungen Frau die 2014 von einem sich spontan versammelnden Mob aus ihrem Auto gezerrt, zusammengeschlagen und mit einem Messer mehrfach schwer verletzt wurde. Als Rettungskräfte eintrafen, hatte man die junge Frau in eine Moschee gezerrt und versperrte den Rettern den Weg - was diese offensichtlich nicht übermäßig motivierten Männer daran hinderte, ein Leben zu retten. Auslöser war ein Kreuz gewesen, welches vom Rückspiegel der Frau hing.
Es war nur ein Beispiel von dutzenden der letzten Jahre, und wer sich fünf Minuten mit Kopten unterhält, die genau darum hier Asyl beantragten und oftmals auch erhalten, der erfährt über eine Vielzahl weiterer. Weit mehr, als die doch sehr unvollständige Liste bei wikipedia verrät.

Aber das alles ist nicht neu und, so dachte ich zumindest, weithin bekannt. Die Bilder aus dem Jahr 2005 als tausende von Muslimen zusammen mit Polizisten die St. Georgskirche in Alexandria belagerten (und ja, der Begriff trifft es exakt) gingen vielleicht nicht in jedem Sender um die Welt, aber abgedruckt wurden sie doch.
Die Bombenanschläge, Entführungen und tödlichen Attacken sind seit ebenso vielen Jahren Routine. Nur besonders "erfolgreiche" Anschläge schaffen es allerdings zu Schlagzeilen in der westlichen Welt - davon gab es aber genug. Ich ging auch davon aus, dass die Tatsache, dass sich empörende Kopten sofort vom Staat attackiert werden, verbreitet oder schnell erfahrbar sei.
Spätestens aber mit der Wahl der oben bereits erwähnten Muslimbrüder und ihres Präsidenten Mursi hätte man es bemerken können. Allein im Jahr 2013 gab es über 110 dokumentierte Angriffe auf Kirchen, christliche Schulen und bekannte (nicht zwangsläufig berühmte) wie unbekannte Kopten - viele davon wurden durch hunderte oder gar tausende Anhänger der Muslimbrüder vorgetragen, in einigen haben die Soldaten und Polizisten, die zur Sicherheit postiert waren Fersengeld gegeben, sich dem Mob angeschlossen oder wurden ebenfalls attackiert. Etwa 50 Kirchen wurden in der Folge des 14.08. 2013 angegriffen, viele davon niedergebrannt. Auf die St. Markus-Kathedrale wurden über Tage und Wochen Angriffe verübt. Inklusive Schusswaffengebrauch. Sie ist die wohl bedeutendste koptische Kathedrale in Ägypten (und wohl auch weltweit).
Selbst die Nachrichtenagentur AP berichtete über den Angriff eines Mobs auf eine Franziskanerschule. Bei diesem Anschlag wurden die anwesenden Nonnen als Gefangene vorgeführt und von der wütenden Menge bedroht und gedemütigt. Gerettet wurden sie von einer einzelnen Muslima, die allein für sie aufstand und auf ihren bei der Polizei arbeitenden Sohn verwies. Zwei christliche Frauen die an der Schule arbeiteten hatten nicht so viel Glück.

Als Mursi und seine von einer deutlichen Mehrheit gewählten Muslimbrüder wie salafistischen Verbündeten vom Militär gestürzt wurden, gab es den eigentlich vorher fälligen Aufschrei der Empörung - der stärker wurde, als es die ersten Prozesse gab - die sich just um solche Angriffe drehten. Spätestens hier hätte jeder interessierte Mensch wenigstens Ansätze von dem erfahren können, was in dort passierte.
Und heute? Es hat sich kaum verbessert - lediglich die Legitimierung durch die Regierung fehlt nun.
So wurde eine Messe und Ehrung der Märtyrer, die von IS Anhängern in Libyen an einem Strand mit kleinen Messern enthauptet wurden durch einen wütenden Mob ansässiger Muslime massiv gestört - und am Ende sogar mit Molotov-Cocktails und Steinen beworfen.
Auch individuellere Formen der Verfolgung, wie etwa (versuchte und erfolgte) Enteignung hat sich nicht erledigt. 2014 ein dramatischer und öffentlicher Mord.

So war ich ehrlich erstaunt, als ich als Antwort auf meine beiden genannten Beispiele den Vorwurf erhielt, ich würde so aufgrund meiner Vorurteile gegenüber dem Islam schreiben, einen Menschen verurteilen den ich nicht kenne, und da ein deutscher Freund des Bloggers für eine Stiftung in Ägypten tätig war und nichts dergleichen berichteten konnte, glaube er nicht, dass es dort wirklich so schlimm zuginge, wie ich behauptete.

Und hier schließt sich der Kreis. Die Menschen glauben heute, Vorurteile seien stets nur negativ. Sie können aber auch positiv sein. Nicht positiv im Sinne, dass sie Gutes bewirken, sondern positiv im Sinne, dass man nichts glauben möchte, was das positive oder mindestens neutrale Bild welches man hat zerstört.
Die Zustände sind dokumentiert, die Attacken gefilmt, potographiert, bezeugt und teilweise verhandelt. Die Menschen fliehen und ihr Fluchtgrund ist geprüft und anerkannt. Die Toten wurden aufgebahrt und bestattet. Die Radikalen von Hunderttausenden und Millionen gewählt.
Bitte was gibt es da nicht zu glauben?
Es ist mir unbegreiflich, wie man "Vorurteile" vorwerfen kann, wenn man einen Absatz vorher die Rolle der Muslimbrüder als Terroristen anerkannte und wissen muss, dass diese fast 40% der Stimmen in der 2011/12er Wahl erhielten und die islamischen bzw. islamistischen Parteien insgesamt auf rund 70% der Stimmen der ägyptischen Bevölkerung kamen. Rechnet man die Kopten raus - die wohl sehr unwahrscheinlich für solche Parteien stimmten - wird die Zahl noch dramatischer.
Auch wurden bei verschiedenen Angriffen auf Kirchen Al Quaida oder Al Quaida-ähnliche Fahnen gezeigt und platziert.
Wie dies mit Behauptungen über eine winzige, einprozentige Unterstützerschaft für den IS zusammengehen will, das hätte ich gerne diskutiert.
Auf der einen Seite Extreme zu unterstellen (also mir Blindheit und Böswilligkeit aufgrund von Ablehnung und Unwissenheit) und auf der anderen Seite die Augen zu verschließen - das will mir nicht in den Kopf.
Die Gegenbeispiele für die Behauptungen sind endlos. Der Telegraph titelte vor nicht allzulanger Zeit mit dem Ergebnis einer BBC Umfrage, dass ca. 1/4 der englischen Muslime mit den Mördern von Paris, dem Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt und die Redaktion von Charlie Hebdo sowie eine Polizistin, sympathisierten und 40% die Sharia möchten. Nun mag das nicht der IS sein, sondern ihm "nur" verwandte Gruppen - aber ändert das wirklich etwas?
An vielen französischen Schulen wurden die Gedenkminuten für die Opfer der Terrortat gestört, die betreffenden muslimischen Schüler weigerten sich nicht nur die Tat als Verbrechen zu sehen, sondern auch den Ermordeten zu gedenken. Und sie waren damit nicht allein.
Eine Umfrage der ICM fand 16% offener Unterstützer für den IS in Frankreich. Wie hoch die Dunkelzahl ist, kann man nur mutmaßen - und damit vermutlich direkt wieder verdächtigt werden.
Wer sich mal die ein oder andere Stunde Zeit nimmt, um Umfragen und Debatten durchzugehen, der kommt auf ein Bild, dass in jedem Fall weit, sehr weit entfernt ist von einer einstelligen, niedrigen Prozentzahl an Unterstützern und Sympathisanten des Islamischen Staates und seiner Ansichten wie Methoden.

Ja, es gibt sie, die Gegenstimmen. Die Muslime und Muslima, die aufbegehren und ein Recht auf Kritik und Interpretation fordern. Menschen wie Kelek und Tibi. Diese Menschen gilt es zu unterstützen, zu bejubeln und als "welche von uns" anzusehen. Sie werden aber nicht nur von uns kaum unterstützt. Kelek war wohl die umstrittenste Person der "Islamkonferenz". Professor Kalisch, ein Konvertit, verlor aufgrund der Proteste über seine zu wenig konservative Art erst seinen Posten und über die permanenten Angriffe und Drohungen zu guter letzt noch seinen Glauben.
Und es gibt sie, Muslime die zu unserer Botschaft finden, zu Christen werden. Leider müssen sie das selbst in Europa oft heimlich tun. Und eine Heimkehr bedeutet ein sicheres Schicksal, wenn es doch bekannt wird.

 Ich schweife ab.

Das Thema der theologischen Untermauerung der Taten des IS oder dessen Widerlegung anhand des Koran - das sehe ich zwar ebenfalls anders, aber würde als Laie mit einem anderen Laien darüber kaum diskutieren, geschweige denn streiten. Lediglich die Breite in welcher der IS seine Ansichten durch die Hand zahlreicher Islamgelehrter in seinen Reihen untermauert gegenüber den etwas dünnen Protestpapieren europäischer Imame darlegt wäre mir einmal eine Diskussion wert - aber nicht auf der Basis mir unterstellter Vorurteile.

Am Ende bleibe ich bei meiner Ansicht. Da ich den betreffenden Mann nicht kenne, kann ich nicht einfach behaupten: er lügt - aber ich behaupte weiterhin, dass dies der Fall sein kann. Denn die Alternative ist: er glaubt, was er sagt und hat all die vielen Fakten und Vorfälle, die Nachrichten und Diskussionen nicht mitbekommen. Wie wahrscheinlich dies ist - das mag nun jeder selbst bewerten und darauf hoffen, es vielleicht eines Tages aufklären zu können.

Was mir selbst bleibt ist der fade Geschmack dieser Diskussion und des Vorwurfes des Vorurteiles, nach der Nennung von Fakten. Ist ein Urteil auf der Basis von Fakten und Ereignissen wirklich durch ein "der war da und hat sowas nicht gesehen" als Vorurteil abzuurteilen? Ich glaube nicht und bedauere den Verlauf der kurzen Diskussion zutiefst. Ich glaube, von dem Wenigen was ich gelesen habe, dass der Blogger ein guter Mensch ist und schlicht versucht auf Gedeih und Verderb das Gute in einer Gruppe von Menschen zu sehen. Aber vielleicht ist das ein Vorurteil. Ich weiß ja fast nichts über ihn.




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