Es ist noch gar nicht so lange her, da war es im Dritten Reich eine richtige Kampagne der regierenden Faschisten den von ihnen als "unwerten Leben" einen euthanos zu geben. Ich gebe zu, ich habe lange Zeit geglaubt, dabei wäre es zugangen wie beim Abtransport von jenen Opfern, die in KZs gequält und gemordet oder einem kaltblütigen Genozid zugeführt wurden.
Götz Aly hat in seinem Buch "Die Belasteten" den Finger genau auf diese Wunde gelegt. Wie entstand das Programm in der Weimarer Republik, wie verhielten sich die Eltern? Was erlebten die Opfer? Solche Fragen finden sich in seinem Buch beantwortet. Und dabei wirft sich die unglaublich belastende Frage auf: wie vertragen sich Liebe und Mord? Denn das Buch macht deutlich: die Eltern haben in einem Großteil der Fälle zugestimmt oder zumindest nicht den kleinsten Finger dagegen gerührt. Anders als beim Holocaust, politischen oder religiösen Protest hatten Widerständler aber wenig bis keine Probleme zu erwarten, ihrem Widerstand wurde, so Aly, in der Regel nachgegeben.
Dieses Buch ist ein salziger Finger in einer notdürftig behandelten Wunde und wirft einen Blick auf Ethik und Moral. Fragen die heute wieder drängend auf dem Tablet liegen.
Eine Warnung zum Schluss, das Buch ist nichts für schwache Nerven. Die Opfer kommen zu Wort, berichten von den Zuständen und Abläufen und der Glaube an die Macht der Mutterliebe kann zu Schaden kommen.
Das Buch erhielt durch Alan Posener (Bild links) eine Rezension auf Welt online. Ich muss gestehen, ich mag diesen Journalisten und seine Art normalerweise nicht. Zu viel Rabulistik, seine Artikel sind durchsetzt von seiner Meinung und Interpretationen Und auch dieses Mal kann er es nicht lassen, Seitenhiebe zu verteilen gegen alles, was ihm nicht in den Kragen passt. Die Anmerkung zum seligen Kardinal Galen (zum behandelten Zeitpunkt noch Bischof) ist dafür beispielhaft, umso mehr, als dass diese mit dem Thema nichts zu tun haben und somit entgegen der Beteuerung nur der Herabwürdigung dienen.
Nun das große Aber. Die Rezension ist aber, bis auf die nicht weiter erläuterte angebliche Distanz zwischen Abtreibung und Euthanasie, sehr gelungen. Besonders der Satz:
Es gibt keinen Grund zur hochmütigen Annahme, man selbst würde in einer vergleichbaren Situation anders handeln.Mit diesem Satz trifft es der Journalist auf den Punkt. Heute ist es üblich mit einer Hybris, mit einer überheblichen Arroganz auf die Vergangenheit zu blicken und aus der Perspektive des Nachgeborenen so zu tun, als seien die Menschen damals charakterlich, moralisch, ethisch und natürlich auch intellektuell weit hinter den Menschen von heute, zumindest in unserer Kultur.
"Sowas könne heute gar nicht mehr passieren" wird dann moniert. Der Mensch hätte heute viel mehr Mitgefühl und wüsste "richtig und falsch" besser zu unterscheiden.
Das dem nicht so ist beweisen unsere Medien und unsere Politik, ja auch verschiedene Bewegungen wie Rechtsextremisten und ihr angeblicher Gegenpol, die sog. Antifa, fast täglich. Politik bestimmt, welche Opfer wir betrauern, wessen Angehörige zu Staatsakten und Diskussionsrunden eingeladen werden, welche Taten bei Neujahrsansprachen thematisiert werden und welche von Verbrechensstatistiken der Regierungen verheimlicht werden. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, politisch, religiös etc. bestimmten, wie viel oder besser wie wenig Respekt man dem Gegenüber entgegen bringt, bis hin zu Morddrohungen und Mordversuchen, welche dann nicht selten sofort in Kategorien eingeteilt werden, je nachdem wer wen versuchte umzubringen.
Den m.E. eindrucksvollsten Beweis liefert aber das Milgram-Experiment. Für jene, die es nicht kennen: ein Testkandidat wird gebeten an einem Experiment zum Thema "Strafe und Lernerfolg" teilzunehmen. Er wird an ein Gerät gesetzt und soll bei einer falschen Antwort oder auf einen Wink des Testleiters einen Schalter umlegen, der einem angeblichen zweiten Testkandidaten einen elektrischen Schlag verpasst, der dabei auch noch gesteigert werden kann. Dieser zweite Kandidat ist allerdings nur ein Schauspieler, der einzige Unwissende ist der erste Kandidat, der zudem durch bestimmte Sätze sollte er zögern animiert werden kann. Der Schauspieler vermittelt dabei den Eindruck wirklich Schmerzen zu haben.
Heruntergebrochen soll also gefoltert werden, um die gewünschten "Erfolge" zu erzielen. Die meisten der Kandidaten haben hierbei mitgemacht, kaum jemand hat sich geweigert.
Das Experiment selbst geriet ebenfalls in die Kritik. Das Erlebnis, als Folterer aufgetreten zu sein konnte, obwohl es natürlich aufgelöst wurde, bei den Probanden Traumata hinterlassen konnte.
Wir unterscheiden uns in Moral und Ethik von unseren Vorfahren weit weniger als in technischer Hinsicht.
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